Anita, die Begegnung auf Augenhöhe scheint in Coaching und Therapie zentral zu sein. Aber was bedeutet das eigentlich? Was wäre für dich essenziell zu sagen, wenn ich dich bitten würde, den Begriff zu erläutern?
So kurz wie möglich gesagt: Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, ist ein Angebot, aus einer wohlwollenden oder mindestens respektvollen Perspektive auf Probleme oder Symptome zu blicken.
Warum ist das aus deiner Sicht so wichtig?
Für mich ist das wichtigste Ziel jedes Therapie- oder Coachingprozesses, Menschen wieder in Kontakt mit ihren bereits vorhandenen Ressourcen und somit in ihr Kompetenzerleben zu bringen. Eine gute Freundin hat es sinngemäss mal so formuliert: Wir kochen schliesslich auch mit dem Käse und nicht mit den Löchern darin.
Kannst du das etwas genauer erläutern?
Sehr gerne. Nach meiner Erfahrung leiden Menschen in zweierlei Hinsicht, wenn sie zu uns in die Praxis kommen: Einerseits an dem, was sie als Problem erleben, andererseits – und das ist ganz zentral – auch daran, dass sie das Problem und ihre Symptome nicht lösen oder «wegmachen» können. Und dann sind wir sehr schnell bei sehr scham- oder schuldvollem Erleben. Sie sind verunsichert und hilflos – je mehr sie schon versucht und unternommen haben, desto hilfloser fühlen sie sich und desto mehr erhoffen sie sich endlich Hilfe von mir als Therapeutin oder als Coach. Was sehr nachvollziehbar ist, aber wiederum mich in ein Dilemma bringt. Und da habe ich im hypnosystemischen Ansatz wunderbare Möglichkeiten gelernt, die mein Dilemma nutzbar machen können für hilfreiche und zieldienliche Prozesse von Klient:innen: Ich kann zum Beispiel sagen, dass der Wunsch nach Hilfe und Rat ein sehr nachvollziehbarer ist, wenn ich höre, mit welchem leidvollen Erleben ihr Problem/ihre Symptome verbunden sind. Die Würdigung des Leidens ist für mich zentral, wenn ich Menschen auf Augenhöhe begegnen möchte.
Ich kann dann aber auch sagen, dass mich dieses Anliegen in eine Zwickmühle bringt: Angenommen, ich würde es für mein Gegenüber in Ordnung bringen können, würde das möglicherweise die Folge haben, dass ich die Menschen darin bestätige, dass sie eben selbst dazu nicht fähig sind. Und das würde ich in keinem Fall wollen!
Und was würdest du denn stattdessen tun oder sagen?
Nun, ich kann beispielsweise ein Angebot machen, welche Herangehensweise ich mir vorstellen könnte, sehen ob mein Gegenüber allenfalls dafür zu gewinnen wäre: So mal versuchsweise auf das Phänomen zu gucken und davon auszugehen, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einer Phase des Lebens ein sinnvoller Lösungsversuch und eine kompetente Anpassungsleistung für eine Herausforderung in einem bestimmten Kontext gewesen sein könnte. Es gibt immer gute Gründe im Sinne von Informationen über berechtigte Bedürfnisse für ein bestimmtes Verhalten.
Damit kann ich einladen, das Phänomen eben mal nicht aus der Position von Unfähigkeit, Scham oder Schuld zu betrachten, sondern diesem wohlwollend und respektvoll – eben auf Augenhöhe – zu begegnen. Und das kann was verändern. Das sieht man auch gut an der Körperhaltung. Die Menschen sitzen innert kurzer Zeit ganz anders da, ihre Selbstwirksamkeitserwartung kann sich sehr schnell in die gewünschte Richtung verändern. Und es kann berührend werden, wenn Symptome plötzlich Ausdruck von Leben und nicht von Mangel werden.
«Wir kochen schliesslich auch
mit dem Käse und nicht mit den Löchern darin.»
Wie bringst du diese Herangehensweise auf Augenhöhe mit dem systemisch-konstruktivistischen Ansatz zusammen?
Wenn ich Menschen für den vorhin ausgeführten Perspektivenwechsel
gewinnen kann, ergibt es sich dann fast wie von selbst, dass wir mal gemeinsam schauen, was es denn für einen Unterschied macht, mal aus der einen – vielleicht schamvollen Perspektive – und einmal aus der Position der Augenhöhe auf ein Phänomen zu schauen. Und schon können wir auf eine Metaebene gehen und gemeinsam schauen, welche Beobachterperspektive für die Potenzialentfaltung zieldienlicher ist.
Wenn wir uns lösen können von «richtig oder falsch», entsteht ein dreidimensionaler Möglichkeitsraum und wir können gemeinsam mit den Klient:innen in Suchprozesse gehen und zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten und Ebenen pendeln. Und ob wir aus einer defizitären oder allparteilichen Position auf Phänomene schauen, ist ein riesengrosser Unterschied. Und dieses Pendeln ist übrigens auch wunderschön anschlussfähig an andere hilfreiche körperorientierte Konzepte.
Was macht es denn für einen Unterschied für dich, wenn du Menschen auf Augenhöhe begegnen kannst?
Eine sehr schöne Frage, denn ich habe tatsächlich auch sehr viel davon. Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, ist ein wesentlicher Aspekt der Beziehungsgestaltung, vielleicht sogar der wesentlichste. Und wenn ich sage Beziehungsgestaltung, dann meine ich auch die Gestaltung der Beziehung zu mir selbst und meinem inneren Erleben. Wie nämlich gehe ich mit mir und dem um, was ich bei mir wahrnehme – auch in einer Therapie oder in einem Coachingprozess. Kann ich möglichst neutral und neugierig – auf Augenhöhe – mein Erleben explorieren und womöglich hilfreiche Informationen sammeln für den Prozess? Und das ist eine ganz andere Position, als wenn ich mich frage, was mache ich grad falsch, und somit in eine Entwertung gehe. Und so habe ich auch nicht den Anspruch an mich, dass die Position der Augenhöhe statisch sein müsste, ich sehe diese Haltung eher als eine Art Leuchtturm, der mir Orientierung gibt. Besonders dann, wenn ich es grad mal als anspruchsvoll erlebe.
Gibt es abschliessend noch weitere wichtige Aspekte
von Augenhöhe für dich?
Hm. Ja, ich glaube, Augenhöhe verhindert auch, dass wir Menschen gut gemeinte Beschwichtigungsangebote machen. Wenn Menschen zum Beispiel sagen, dass sie etwas nicht gut genug oder falsch machen, dann haben wir vielleicht den Impuls, darauf mit einem «du machst das doch super» zu reagieren. Dann sind wir aber – schwupps! – nicht mehr auf Augenhöhe. Stattdessen könnten wir fragen: Das ist eine mögliche Perspektive, auf ein Phänomen zu schauen, gibt es auch noch (eine) andere? Hier kommen dann auch unterschiedliche systemische Fragetechniken ins Spiel.
«Es kann berührend werden,
wenn Symptome Ausdruck von Leben und nicht von Mangel werden!»
Allein dadurch, dass ich Fragen stelle, kann ich den Blick darauf ausrichten, für was ist das auch eine Kompetenz, oder um welches Bedürfnis geht es hier. Das gibt dann eine innerliche Aufwärtsbewegung, und ich muss gar nicht aufzählen, was mein Gegenüber alles an Ressourcen hat. Wann immer es gelingt, eine kompetenzfokussierte Position einzunehmen, kann etwas Leidvolles, Beschämendes und Schuldbeladenes in der Rückblende plötzlich sinnhaft werden. Das macht einen enormen Unterschied.
Herzlichen Dank für das Gespräch, Anita.
Anita Hardegger ist eidg. anerkannte Psychotherapeutin und arbeitet als Therapeutin, Supervisorin und Coach in eigener Praxis. Am IEF ist sie Dozentin und Co-Bereichsleiterin «Systemische Psychotherapie».