Mélanie: Im Systemischen achten wir ja sehr auf Beziehungen und Interaktionen. Deshalb würde ich euch gerne fragen: Wie würdet ihr eure Beziehung zum Systemischen beschreiben?
Peter: Wenn man wüsste, was «das Systemische» ist? (Lachen) In den 70er-, 80er- und 90er-Jahren gab es «systemische» Ansätze nur als Fortbildung – im IEF seit 1969! Zunächst waren das Ideen zur Paar- und Familienberatung, die aus der sozialen Arbeit und der analytischen Ecke kamen, später die Mailänder und die Heidelberger Schule und der Konstruktivismus, Entwicklungen aus der Hypnotherapie wie zum Beispiel Watzlawicks Kommunikationstheorie oder dann der lösungsorientierte Ansatz. Von den therapeutischen Ausbildungen hat mich damals vor allem der klientenzentrierte Ansatz von Carl Rogers beeindruckt. Meine Begegnungen mit Carl Rogers führten mich zur Hypnotherapie nach Milton Erickson. In unserer Generation haben sich viele als Teil der Veränderung verstanden, wir versuchten die bestehenden Ansätze weiterzuentwickeln. In den 80er-Jahren entstanden im deutschsprachigen Raum dann die ersten hypnotherapeutischen Fortbildungen. In dieser Zeit habe ich die erste Zusatzausbildung für Hypnotherapie in der Schweiz mit aufgebaut. Wir haben gesehen, dass in der Hypnotherapie viele Wurzeln des Systemischen stecken. Man könnte auch sagen, Trancearbeit ist systemische Arbeit nach innen. Ich war damals gegenüber dem systemischen Ansatz eher ambivalent, weil der Anspruch, nur noch mit dem System zu arbeiten, für mich zu dogmatisch war und therapeutisch zu kurz griff. Das Hypnosystemische ist dann für mich zu einem integrativen Dach geworden.
Mirjam: Für mich ist es die konstruktivistische Haltung, die einen wichtigen Unterschied macht. Ich habe diese ganze Entwicklung nicht wie du, Peter, miterlebt. Ich habe versucht, es aus der Literatur heraus nachzuvollziehen. Da ist mir auch aufgefallen, dass die damaligen Familientherapeuten noch ganz aus einem Selbstverständnis des Expertentums mit ihren Klienten gearbeitet haben. Für mich ist beim systemischen Ansatz eher das Philosophische wichtig und die Haltung, die sich daraus ableitet. Darum ist dieser Ansatz auch so schwierig vergleichbar mit anderen Schulen. Er ist übergeordneter und liegt deshalb irgendwie «quer» in der Landschaft.
«Es gibt kein eindeutiges Modell
und auch keinen Guru, der sagt, so ist es.»
Peter: Auch für mich ist das Systemische und das Hypnosystemische inzwischen eine schulenübergreifende Herangehensweise mit einer wohlwollend ressourcenorientierten Haltung auf Augenhöhe, die die Leidensgeschichten auch als Überlebenskompetenzen würdigt und Symptomatiken als Beziehungen beschreiben kann. Interventionen und Techniken sind dazu da, diese Haltung zu transportieren und wirken zu lassen. Veränderungen und Heilung sind immer Ausdruck der Selbstwirksamkeit unserer Klientinnen und Klienten und nicht Folgen von Techniken und Methoden. Ziele wie «kein Schmerz» oder «keine Angst» sind – suggestiv betrachtet – Schmerz- oder Angstinduktionen. Eine «Angststörung» bekämpfen zu wollen, führt in eine andere Richtung, als gemeinsam mit der Angst als treuer Verbündeter für mehr Sicherheit zu sorgen.
«Hauptakteure bei jeglicher Heilung sind immer noch die autopoietischen Selbstheilungskräfte.»
Mirjam: Mir gefällt an der Entwicklung des systemischen Ansatzes, dass es nicht ein eindeutiges Modell gibt und auch keinen Guru, der sagt, so ist es. Es ist eher eine kontinuierliche Weiterentwicklung, die von vielen getragen wird und auch nicht abgeschlossen ist. Meine Beziehung zum systemischen Ansatz ist deshalb auch immer etwas ambivalent, denn dieses Uneindeutige hat selbstverständlich sowohl Vorteile als auch Nachteile. Es gibt eine Fülle an schönen Denkarten in der systemischen Herangehensweise. Das ist wie ein Mantel, unter dem du zunächst sorgfältig selbst zusammenträgst, was zu dir auch wirklich passt. Du kannst es nicht richtig oder falsch machen, wie es vielleicht in einem Manual beschrieben ist, sondern du setzt es immer in einem massgeschneiderten, individuellen Sinne um, sodass eben dieser Mantel für die Klient:innen auch passt.
Könnte man sagen, der therapeutische Ansatz soll zum Klient passen,
und nicht der Klient muss in den Ansatz hineinpassen?
Peter: Das war früher in der orthodoxen Psychoanalyse ja so, dass man den Patient:innen sagte, lesen Sie doch mal nach, in welcher Phase des Widerstandes Sie gerade sind. Und heute kommt es mir vor, dass das aus einer «Wir Experten wissen es besser»-Haltung heraus in vielen Kliniken noch so funktioniert: Das Manual sagt, so geht man vor, weil jemand diese Diagnose hat.
Mirjam: Alle, die nicht passen, sind dann «atypische Fälle».
Peter: Und wenn sie sich nicht heilen lassen, bekommen sie zum Abschied die Diagnose «Persönlichkeitsstörung» geschenkt.
Mirjam: Systemisches Denken liegt in den klinischen Institutionen immer noch etwas «quer» in der Landschaft. Das hat mich zunächst auch irritiert, als ich frisch in der Klinik mit dem arbeitete, was ich aus dem IEF mitgenommen habe. Mir ist aber aufgefallen, dass viele Teamkolleg:innen auf das systemische Verständnis eines Menschen und die systemische Herangehensweise durchaus neugierig gewesen sind.
Peter: Die Schulmedizin ist ein Konstrukt von «Der Arzt weiss es besser!». Natürlich sollten die Chirurg:innen besser als die Patient:innen wissen, wie undwo sie schneiden. Da passt das. Aber für unsere Art der Therapie passt das nicht. Die klinischen Strukturen sehen nicht vor, dass man individuell würdigend arbeiten könnte.
Mirjam: Ich habe im institutionellen Kontext häufig beobachtet, dass es in erster Linie um Quantifizierbarkeit einer mentalen Veränderung geht – wohl häufig auch aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus. Im soziologischen Sinne passt das auch zu einer Leistungsgesellschaft. Mit dem Fokus auf die individuelle Erlebnisqualität einer Klient:in folgen wir da jedoch einer anderen Logik. Da kollidieren dann unterschiedliche Haltungen. Es bleibt wieder die offene Frage bzw. dieses Spannungsfeld der Kompatibilität zwischen der Individualität jedes Menschen und einer standardisierten Messbarkeit dessen.
Ihr habt beide erwähnt, dass eure Beziehung zum systemischen Ansatz amivalent sei. Und diese Ambivalenz regt an, etwas Eigenes daraus zu machen. Das ist anspruchsvoll, birgt aber auch viele Qualitäten. Diese Ambivalenz bewirkt Reibung und kann in Gesellschaft und Klinik auf Widerstand stossen. Welche Erfahrungen habt ihr damit gemacht?
Mirjam: Bei mir erzeugt diese Reibung mein professionelles Feuer und nährt es jeden Tag! Diese Herausforderung ist mein Motor, und das übertr.gt sich dann auf die Menschen, die zu mir kommen. Da ist jemand mit ihnen mitten im Spannungsfeld zwischen den Fragen und Antworten des persönlichen Anliegens. Diese Herausforderung teile ich enorm gerne mit meinen Klient:innen – und werde noch bezahlt dafür. (Lachen) Ich höre seit Jahren unzählige spannende Lösungsversuche für die grossen Fragen des Lebens. Da kann ich mich doch nur bei meinen Klient:innen bedanken. Dieses Framing ist für mich und meine Arbeit zentral.
Peter: Ich denke, es ist entscheidend, nicht aus guter Absicht zu meinen, wir müssten oder könnten etwas oder jemanden heilen. Hauptakteure bei jeglicher Heilung sind immer noch die autopoietischen Selbstheilungskräfte der Menschen, die zu uns kommen. Da macht es Sinn, sich zu verbünden und gemeinsam diese heilenden Kräfte zu entdecken und in die vorausgehende Überlebenskunst zu integrieren. Dann entstehen Entwicklungs-, Wachstums- und Bereicherungssysteme. Institutionelle Kampfhandlungen wie «Gemeinsam gegen die Essstörung» sind weder systemisch noch gesund. Die Gefahr, zwar «systemisch» ans Türschild zu schreiben, aber dann doch im klassischen medizinischen Denken gefangen zu bleiben, bemerken wir auch in der Psychotherapieweiterbildung am IEF. Die Sehnsucht der Studierenden nach «den richtigen Tools» ist spürbar. Und auch vom BAG wird explizit «störungsbasierte Wissensvermittlung» gefordert ist. Auch dort ist es ein Balanceakt, den geforderten Richtlinien zu genügen und sich gleichzeitig ganz frei davon zu machen.
Mirjam: Das sehe ich genauso. Wir sind in der Psychotherapieausbildung zunächst auf der Suche nach einer gewissen Sicherheit, quasi nach einem Geländer, an dem wir uns festhalten können. Ich weiss nicht mehr, wann das bei mir genau passiert ist, dass ich mich davon ein Stück weit lösen konnte. Heute ist in dieser Sache mein Motto: «Das eine tun, und das andere nicht lassen.» So versuche ich, den Spagat im Spannungsfeld hinzukriegen, und das bedeutet, dass wir in die für mich so wichtige – vorhin erwähnte –Auseinandersetzung kommen.
«Systemisches Denken liegt in den klinischen Institutionen immer noch etwas ‹quer› in der Landschaft.»
Peter: Das finde ich sehr gut, aber das Spannungsfeld bleibt zunächst. Wenn man zum Beispiel das störungsspezifische Wissen auch liefert, dann geht es doch in eine falsche Richtung. Der Begriff «störungsbasiertes Wissen» suggeriert, es handle sich um eine Störung und es gäbe ein allgemeingültiges spezifisches Wissen zur Behebung.
Mirjam: Für mich bedeutet dieses Spannungsfeld, dass wir das störungsspezifische Wissen übersetzen und auf einer Metaebene einordnen sollten, damit wir dann darüber reflektieren können. Das ist ein grosser Anspruch, aber wir können zumindest versuchen, das so zu jonglieren. Das meine ich im Sinne von, das ist mein aktueller «Stand des Unwissens».
Peter: Ich habe da auch keine perfekte Lösung. Ich merke einfach, dass ich immer sensibler auf jede Form von impliziten Suggestionen, die für die gewünschten Veränderungen in die falsche Richtung gehen, reagiere. Störungsspezifisches Wissen ist für mich als Begriff eine hinderliche Suggestion, umso mehr, wenn Therapiemanuale darauf aufbauen.
Mirjam: Für mich ist das ein Ideal, das wir anstreben sollten. Aber ich würde eher den Diskurs mit den Klient: innen ins Zentrum stellen, denn er regt zur Auseinandersetzung an. Und so können die Klient:innen selber in eine Auseinandersetzung mit dieser Störungsorientierung gehen. Da kann schon hilfreich sein, einfach ein Fragezeichen hinter einen Begriff zu setzen, damit ein Spannungsfeld entsteht. Oder wir setzen die «Störung» in Anführungszeichen, damit wir signalisieren, dass sie keine Wahrheit ist und auch hinterfragt werden darf.
Was hat sich verändert? Was sind die Unterschiede von früher zu heute?
Peter: Die Haltung hat sich im systemischen Ansatz zunehmend zum zentralen Element entwickelt. Ich würde sogar sagen, dass unsere Haltung die massivste Intervention ist. Egal welche Techniken wir anwenden, entscheidend ist, ob uns das Transportieren der Haltung gelingt. Verändert hat sich auch das breite Anwendungsfeld von Psychotherapie in einem schulmedizinischen Kontext. Wir können nicht davon ausgehen, dass sich die Schulmedizin mit ihrer «Die Experten wissen es besser»-Haltung wegen uns verändert, auch wenn es ihr in vielen Bereichen guttäte. Da frage ich mich: Können wir die schulmedizinischen Systeme so behandeln, wie wir unsere Klient:innen behandeln? Mit Würdigung reingehen, für das, was sie geleistet haben, um sie dann langsam zu verändern. Wenn wir sie bekämpfen, gibt es ein Gegeneinander und ein Eskalationssystem. Und nur auf Veränderung zu hoffen, wird wohl auch nicht reichen.
«Können wir die schulmedizinischen
Systeme so behandeln, wie wir unsere Klient:innen behandeln?»
Mirjam: Aus meiner gegenwärtigen Perspektive ist es schwierig, die Unterschiede zu früher wirklich zu beurteilen. Ich bin aber überzeugt, dass der systemische Ansatz weiterhin anschlussfähig bleiben wird. Wir sind mit vielen neuen Themen konfrontiert, wie zum Beispiel der Pandemie, dem Thema «künstliche Intelligenz» oder der insgesamt erhöhten Geschwindigkeit der gesellschaftlichen Veränderung. Ich denke, dass wir mit unserer systemischen Haltung die neuen Phänomene des Zeitgeistes gut integrieren können. Das ist letztlich auch das Faszinierende an diesem Ansatz und ich bin gespannt, wie es uns gelingen wird, den Veränderungen der Zukunft zu begegnen.
Herzlichen Dank für das Gespräch, Mirjam und Peter.
Mirjam Hartmann-Riemer ist eidg. anerkannte Psychotherapeutin und arbeitet seit 2021 in privater Praxis in Zürich. Sie hat ihre psychotherapeutische Weiterbildung am IEF absolviert und ist dort als Gruppensupervisorin tätig.
Peter Hain, Dr. phil., ist Fachpsychologe für Psychotherapie und für Kinder- und Jugendpsychologie FSP. Er arbeitet seit 1984 in privater Praxis. Er doziert seit
20 Jahren auch am IEF und leitet dort aktuell den Fachbereich Hypnosystemische Fort- und Weiterbildungen. Div. Veröffentlichungen, Buchautor «Das Geheimnis therapeutischer Wirkung» (Carl-Auer Verlag).