Du warst während rund 20 Jahren Gerichtspräsidentin. Ende der 90er-Jahre hast du eine Mediationsausbildung gemacht. Ich nehme an, dass du damals unter den Gerichtspräsident /innen eine Art Exotin warst. Was hat dich zu diesem Schritt bewogen?
Ich habe den normalen Werdegang zur Richterin gemacht und wusste wenig über Kommunikation, Verhandlungsführung oder die Dynamik von Konflikten. Ich merkte schnell, dass ich mit meinen juristischen Werkzeugen im Umgang mit den Menschen an Grenzen komme. Auch wenn ich die rechtlichen Anforderungen erfüllte, so diente ich damit den Menschen zu wenig. Das hat mich zur Mediation geführt.
Nach der Ausbildung begann ich die Verhandlungen anders zu führen. Ich stellte fest, dass ich die mediativen Elemente sehr gut in einer Gerichtsverhandlung anwenden kann: aktiv zuhören, regelmässig zusammenfassen und die verschiedenen Sichtweisen herausschälen und sie so dem Gegenüber zugänglicher machen. Dadurch fühlten sich die Parteien verstanden, was wiederum auch in einem gerichtlichen Kontext hilfreich ist, weil die Parteien das Urteil so besser akzeptieren können. Die mediativen Elemente wurden in meiner Arbeit selbstverständlich, und so bezeichnete ich mich schliesslich als «mediative Gerichtspräsidentin».
Die Mediationsausbildung hat mein Leben sehr verändert, sowohl im persönlichen wie auch im beruflichen Bereich. Ich gehe heute offener auf die Menschen zu, ich bewerte und urteile nicht sofort. Ich höre viel besser zu und versetze mich in die Situation meines Gegenübers. Und: Ich versuche immer das Gute im Menschen zu finden. Das heisst, mein Menschenbild hat sich komplett verändert. Das wirkt sich in meinem privaten Umfeld aus, aber natürlich auch im beruflichen Kontext. Und in dem Sinne sage ich auch: Mediation ist mehr als eine Methode respektive ein Verfahren. Mediation ist eine persönliche Einstellung, eine Haltung, wie ich auf Menschen zugehe, zwischen ihnen vermittle. Ich kann also eine Ausbildung in Mediation nur empfehlen. Wobei anschliessend nicht alle als Mediator/innen arbeiten müssen. Das Einfliessenlassen von mediativen Elementen im angestammten Beruf ist ebenso wertvoll.
Was sind die Vorteile einer Mediation gegenüber einem Gerichtsverfahren?
Grundsätzlich geht es nicht darum, die Mediation gegen das Gerichtsverfahren zu stellen, sondern das Miteinander zu betrachten. Es ist die Aufgabe der Richterin oder des Mediators, herauszufinden, welcher Weg den Menschen am besten dient. Eine Richterin aus Holland erzählte mir, dass sie jeweils eine «Konfliktdiagnose» mache. Sie stelle sich eine einfache, aber zentrale Frage: «Was brauchen die Menschen, die in diesen Konflikt involviert sind?» Das ist ein sehr wertvoller Ansatz. Wenn es zum Beispiel einfach einen Entscheid braucht, damit die zerstrittenen Parteien wissen, was gilt, dann ist ein Gerichtsverfahren der richtige Weg. Denn dann kann Ruhe einkehren. Oder wenn es Rechtsfragen zu entscheiden gibt. In anderen Fällen macht es Sinn, dass die Parteien selber eine Lösung erarbeiten und eigenverantwortlich das Heft in der Hand behalten. Das ist in einer Mediation möglich, indem wir den Anliegen und Wünschen der Parteien Raum geben.
Ein Beispiel sind Streitigkeiten um das Besuchsrecht von Eltern. Da kann jeder Richter eine Regelung autoritativ festlegen. Ob Eltern diese im Alltag dann befolgen, ist eine andere Frage. Wenn Eltern hingegen gemeinsam eine Lösung erarbeiten, ja miteinander darum ringen, dann ist diese weit tragfähiger. Die Eltern halten sich dann eher an die Abmachungen, was den Kindern, die ja direkt betroffen sind, zugute- kommt. Der Weg der Mediation ist in solchen Situationen viel nachhaltiger.
Oft wird vom Richter resp. der Behörde eine Mediation angeordnet. Die Mediation ist in diesem Fall nicht freiwillig. Was gilt es dabei zu beachten?
Mit den interdisziplinären Fachbehörden im Kindes- und Erwachsenenschutz werden mehr Mediationen angeordnet. Dies ist eine sehr positive Folge des neuen Rechts. Vorher gab es angeordnete Mediationen in Trennungs- und Scheidungsverfahren eher selten. Ich begrüsse diese Entwicklung sehr, denn es steckt viel Potenzial in diesen Anordnungen. Natürlich stellt die Verfügung einer Mediation durch den Richter oder die Kindes- und Erwachsenschutzbehörde (KESB) einen Zwang dar. Das Prinzip der Freiwilligkeit besteht jedoch primär darin, dass die Parteien die Mediation jederzeit wieder abbrechen können. Die Eltern sollen dann die möglichen Konsequenzen eines Abbruchs kennen: Im Kindesschutz könnte dies zum Beispiel sogar den Entzug der Obhut oder der elterlichen Sorge bedeuten.
Wie gehe ich als Mediatorin damit um, wenn Eltern die Faust im Sack machen und die Mediation gar nicht wollen? Diese Eltern muss man abholen, indem man ihnen aufzeigt, was für sie an dieser Mediation sinnvoll sein könnte. Ich habe einen Fall erlebt, da ist der Mann in den ersten beiden Gesprächen jeweils nach zehn Minuten aufgestanden und wollte gehen. Ich musste ihn jedes Mal mit Nachdruck überzeugen, noch etwas zu bleiben. Nach Abschluss der Mediation hat genau dieser Mann im Rahmen einer Weiterbildung eine Arbeit über gewaltfreie Kommunikation geschrieben! Damit will ich sagen, dass in den vier, fünf Gesprächen einer angeordneten Mediation sehr viel Veränderung möglich ist. Oft geht es um kleine Fragen, die aber im Verhältnis der Eltern zueinander matchentscheidend sind: Wie organisieren wir den Geburtstag des Kindes? Wann kann der Vater das Geschenk vorbeibringen? Wer ist dann dort? Wie feiern wir Weihnachten? Wie teilen wir die Tage auf, bis zu welcher Stunde sind die Kinder bei der Mutter beziehungsweise beim Vater? Diese Fragen müssen sehr detailliert und mit Fingerspitzengefühl angegangen werden.
Die Kommunikation und der Umgang zwischen den Eltern ist ein weiteres, grosses Thema bei der angeordneten Mediation: Wie reden wir miteinander? Schreiben wir uns kurze, nüchterne SMS-Nachrichten, die der andere garantiert in den falschen Hals bekommt? Oder wie telefonieren wir miteinander? Da geht es dann um die Grundsätze einer wertschätzenden Kommunikation. Manche Eltern müssen eine gewaltfreie Kommunikation richtig üben.
Was können Mediatorinnen und Mediatoren bewirken, wenn sie mit gutem Beispiel vorangehen und mit einer wertschätzenden Haltung zeigen, wie Kommunikation gut funktionieren kann?
In einem hochstrittigen Kontext ist eine wertschätzende Haltung von sehr grosser Bedeutung. Gerade bei angeordneten Mediationen geht es oft sehr heftig zu und her. Ich bin schon zwischen Eltern gestanden, weil ich annahm, die Frau würde dem Mann gleich das Laptop an den Kopf werfen. In solchen Situationen ist es eine grosse Herausforderung, das Wertschätzende zu bewahren. Und zu sehen, dass es etwas Gutes in diesen Menschen hat, auch wenn sie gerade unmöglich miteinander umgehen. Wir versuchen dann das wahrzunehmen, was den Menschen ausmacht, und nicht das, was er gerade macht.
Diese Person wird ihre guten Gründe haben, warum sie sich gerade so verhält. Und wenn ich herausfinde, was die Gründe dafür sind, dann kann ich als Mediator arbeiten und auch in schwierigen Situationen die wertschätzende Haltung bewahren.
Ja, diese Neugier unterstützt uns Mediatorinnen und Mediatoren dabei, weiter zu forschen und aufzudecken, was die Hintergründe sind, die vielleicht noch etwas zugeschüttet sind. Wenn ich zusammenfasse, was ich von den Parteien gehört habe, und dabei immer die gleichen Formulierungen verwende wie «habe ich richtig verstanden?» oder «ich nehme bei Ihnen wahr», dann sagt irgendwann auch die eine Seite zur anderen: «Habe ich dich jetzt richtig verstanden, dass …» Und ich weiss: Jetzt ist etwas passiert. Jetzt ist etwas in das System hineingesunken, das sie aufgenommen und verankert hat und in einem nächsten Schritt anwenden kann. Das sind die kleinen grossen Erfolge, die wir in der Mediation erleben.
Wir werden ja oft gefragt, wann eine Mediation erfolgreich sei. Den Vertretern eines Gerichts oder einer KESB antworte ich dann, dass eine Mediation nicht erst erfolgreich ist, wenn wir eine Vereinbarung erarbeitet haben, die alle Punkte umfasst und von den Parteien unterschrieben ist. Nein, das Wesentliche geschieht schon viel früher. Wir sind erfolgreich, wenn Verhaltensänderungen – und seien es auch nur kleine erste Schritte – bei den Parteien möglich werden.
Ich würde gerne noch auf deine Funktion als Präsidentin des Schweizerischen Dachverbandes Mediation (SDM) zu sprechen kommen. Was war deine Motivation, dieses doch auch zeitaufwendige Amt anzunehmen?
Ich habe mein Herzblut in der Mediation und bin davon überzeugt, dass die Mediation ein unglaublich grosses Potenzial hat, aber noch viel zu wenig gelebt wird. Und so habe ich mein Amt als Präsidentin genau mit diesem Herzblut angetreten. Ich möchte dazu beitragen, dass dieses Potenzial mehr zum Tragen kommt. Heute sehe ich, was wir bereits erreicht haben. Die Mediation etabliert sich mehr und mehr. Ich meine jetzt nicht die Mediation als Verfahren, sondern vielmehr als eigenständige Profession. Der SDM versteht sich einerseits als Dachverband von heute 22 Mitgliedsorganisationen mit rund 1500 Mitgliedern und andererseits auch als Berufsverband, als Stimme derjenigen Mitglieder, welche die Mediation als Beruf ausüben und davon leben wollen. In kleinen Schritten geht es in die richtige Richtung: In der Gesellschaft wächst das Selbstverständnis, bei einen Konflikt nicht zuerst einen Anwalt oder ein Gericht aufzusuchen, sondern zuerst eine Mediatorin oder einen Mediator hinzuzuziehen.
Du hast dieses angestrebte Selbstverständnis einmal sehr schön beschrieben: «Wenn mein Auto kaputt ist, gehe ich zur Automechanikerin. Wenn ich ein Haus bauen will, gehe ich zu einem Architekten. Wenn ich einen Konflikt habe, dann gehe ich zum Mediator.» Wo stehen wir gesellschaftspolitisch in Bezug auf die Mediation?
Das ist eine herausfordernde Frage. Die Mühlen mahlen langsam – in der Gesetzgebung, aber auch in der Gesellschaft. Mit der neuen Zivilprozessordnung 2011 haben wir erstmals substanzielle Bestimmungen zur Mediation bekommen. Das war sicher ein Durchbruch. Es dauert jedoch mindestens 10, 20 Jahre, bis dieses Selbstverständnis wirklich in der Realität ankommt. Es braucht einen langen Atem und stetige Aufklärungsarbeit. Unsere Botschaft ist immer die gleiche: Es gibt eine andere Möglichkeit, Konflikte zu lösen, als über ein Gerichtsverfahren, das unter Umständen sehr viel Zeit und Geld kostet. Die Menschen mit dieser Botschaft zu erreichen, ist ein anspruchsvoller Weg. Deshalb ist Öffentlichkeitsarbeit sehr wichtig. Wir haben zum Beispiel den «Tag der Mediation» ins Leben gerufen, der in den deutschsprachigen Ländern jeweils am 18. Juni durchgeführt wird. Die Mediatorinnen und Mediatoren sind an diesem Tag aufgerufen, ihre Praxistüren zu öffnen oder raus auf die Strasse zu den Menschen zu gehen, um mit ihnen über Mediation ins Gespräch zu kommen.
Ein weiteres wichtiges Thema ist die Qualitätssicherung im Berufsfeld der Mediation. Mediator, Mediatorin sind ja keine geschützten Titel, jeder kann sich so nennen. Es ist uns ein Anliegen, dass die von unserem Verband vergebenen Titel «Mediator/in SDM» und «Mediator/in SDM mit Spezialisierung in Familienmediation» für Qualität stehen. Deshalb haben wir klare Richtlinien für Aus- und Weiterbildung, für Supervision und Intervision.
Lässt sich aus diesem Spezialisierungstitel eine Tendenz ableiten? Braucht es eventuell weitere Spezialisierungsangebote? Anders gesagt: Ist vielleicht ein gewisser «Stallgeruch» seitens der Mediatoren von den Klienten erwünscht?
Bei der Gründung des Dachverbandes im Jahr 2000 stand die mediative Haltung im Vordergrund. Im Laufe der letzten Jahre wurde sichtbar, dass auch die Feldkompetenz von Bedeutung sein kann. Es ist für die Medianden hilfreich, wenn der Mediator ihre Sprache spricht und die Gepflogenheiten ihrer Branche kennt. Das hat beim SDM dazu geführt, dass unter seinem Dach neue Fachorganisationen wie zum Beispiel die Bau-Mediation oder die Mediation im ländlichen Raum entstanden sind. Aktuell sind wir daran, einen Spezialisierungstitel in Wirtschaftsmediation zu erarbeiten.
Da kann man also sagen, dass sich die Mediation bereits weit über den Familienbereich hinaus entwickelt hat und in vielen neuen Feldern zum Einsatz kommt.
Ja, diese Entwicklung kann ich bestätigen. Natürlich ist die Mediation im Bereich von Trennungen und Scheidungen mit Abstand am meisten verbreitet. Die Menschen suchen aber in immer neuen Gebieten die Unterstützung der Mediation, ich denke da insbesondere an die Wirtschaftswelt. Mediation war früher ein No-Go im wirtschaftlichen Umfeld. Das änderte sich aber sukzessive, und die Mediation ist heute bei Streitigkeiten zwischen Unternehmen oder innerhalb eines Unternehmens absolut salonfähig geworden.
Darf ich dir zum Abschluss eine «Wunderfrage»* stellen?
Gerne. Diese Wunderfrage hat ja jedes Mal eine tolle Kraft. Da passiert wirklich etwas mit einem. (Gelächter.)
Also, stelle dir vor, über Nacht geschieht ein grosses Wunder: Deine Visionen der Mediation werden wahr. Du erwachst dann am Morgen und weisst noch nicht, dass ein Wunder geschehen ist. Woran würdest du merken, dass etwas anders ist?
In den Schulen wäre Mediation ein Schulfach wie Lesen und Rechnen. Die Peace Maker auf den Pausenplätzen wären zur Institution geworden. Dadurch hätte sich auch in der Welt der Erwachsenen vieles verändert: Die Idealisten wären die Realisten der neuen Zeit – in der Politik genauso wie in der Wirtschaft. Konflikte würden ohne Gewalt, konstruktiv und einvernehmlich gelöst. Die Mediation würde massgeblich zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten beitragen – im Kleinen wie im Grossen. Dadurch hätte die Welt ein anderes, fröhlicheres Gesicht!
* Die Wunderfrage
Die von Steve de Shazer entwickelte Wunderfrage greift auf die Kristallkugeltechnik nach Milton Erickson zurück. Sie hilft dem Klienten, über diese Art der Fragestellung in einem entspannten Zustand neue Lösungswege für seine Probleme zu finden.
Das Gespräch mit Andrea Staubli ist publiziert im IEF-Magazin Nr. 7, Herbst 2018.