«Heute ist die Schwelle,
um Unterstützung zu bekommen, viel zu hoch.»

Wie geht es den Familien? Wie können wir ihre Resilienz fördern? Was sind die Erfolgsfaktoren in der professionellen Arbeit mit Familien? Psychiaterin Monika Ridinger diskutiert mit Marianne Egloff über die Möglichkeiten, Familiensysteme zu stärken.

 

Marianne Egloff: Monika, Du bist neben Deiner psychotherapeutischen Praxis stark bei HotA engagiert, einer Organisation für systemische Familienberatung und aufsuchende Familienbegleitung und -therapie im Kanton Aargau. Wie ist es zu dieser Zusammenarbeit gekommen?
Monika Ridinger: Bereits Ende der 1990er-Jahre habe ich in Bayern ein Projekt zur aufsuchenden Familientherapie aufgebaut, Familientherapeut:innen ausgebildet
und supervidiert. 2016 habe ich im Aargau dann HotA kennengelernt, was eine tolle Gelegenheit war, wieder bei der aufsuchenden Arbeit anzuknüpfen.

«Unsicherheit,
Verunsicherung,
Irritierungen nehmen
insgesamt zu.»

Was mich von Anfang an faszinierte, war die Arbeit in interdisziplinären Teams. Das scheint mir ein zentraler Erfolgsfaktor von HotA: Hier arbeiten Sozialarbeitende, Sozial- und Heilpädagog:innen sowie Therapeut: innen und Mediziner:innen mit und an einer Familie. Und dazu kommt – ganz wichtig – die Supervision, die alles integriert. Diese unterschiedlichen Perspektiven sind ein grosser Gewinn.

 

Gibt es neben dieser interdisziplinären Qualität weitere Erfolgsfaktoren, die diese Arbeit auszeichnen?
Interdisziplinarität heisst für mich, dass viele zusammensitzen und sich aus verschiedenen Perspektiven eine Situation anschauen. Dazu braucht es aber auch Augenhöhe. Das heisst, da gibt es in diesem System niemanden, der wichtiger ist als die anderen. Alle tragen etwas bei. Niemand ist weisungsbefugt. Klar kann es hierarchische Strukturen geben, aber entscheidend ist, dass wir ein gemeinsames Ziel haben und im Team schauen: Was ist jetzt das Beste für diese Familien? Es geht um das Zusammentragen von möglichst vielen Informationen und dass wir uns die Mühe machen, darüber zu diskutieren. Das ist gar nicht selbstverständlich, denn das braucht Zeit.

Wichtig ist auch der konsequente Fokus auf die Ressourcen, die Salutogenese. ln der Medizin sind wir häufig auf die Pathogenese fixiert. Wir schauen auf das, was fehlt. Wenn wir den Fokus aber darauf legen, was ein System braucht, damit die Entwicklung der Kinder weitergeht, dann wird auch definiert, was fehlt, aber nur, um Wege und Mittel zu finden, um das, was fehlt, zu fördern. Wir haben also zusammengefasst Interdisziplinarität auf Augenhöhe, den konsequenten Fokus auf Ressourcen, und was jetzt noch dazukommt, das ist die Individualität. Wir leisten es uns, jede Familie ganz konkret und ohne vorgefertigtes Schema anzuschauen. Was braucht die Familie im Moment am meisten? Es wird mit Hypothesen gearbeitet, die immer wieder überprüft und an die Bedürfnisse der Familie angepasst werden.

 

Gibt es Veränderungen der Problematiken von Familiensystemen, die Du in den letzten Jahren festgestellt hast?
Aus meiner Sicht ist es offensichtlich, dass familiäre Belastungen nach aussen deutlicher werden. Wir wissen nicht, wie das früher war, ob und wie Familien damals aufgefangen wurden. Aber wir wissen, und unsere Zahlen der letzten zehn Jahre zeigen das deutlich, dass die Prävalenzraten bei den Kindern in Bezug auf psychische Störungen zugenommen haben. Da geht es vor allem um Angststörungen und Depressionen. Aktuell sind auch Autismus-Spektrum-Störungen ein grosses Thema. So können wir aktuell davon ausgehen, dass drei bis zehn Prozent aller Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren eine Depressionsdiagnose haben. Bei den Angststörungen ist die Rede von 10 bis zu 32 Prozent. Bei aller Vorsicht gegenüber solchen Zahlen, sie deuten auf eine alarmierende Realität hin. Gerade Jugendliche und Adoleszente sollten keine grösseren Ängste haben. Die Pubertierenden befinden sich in einer Lebensphase, in der man auch mal über die Stränge schlagen muss. Im Erwachsenenalter werden wir dann ja noch genug in irgendwelche Raster und Rahmen reingepresst. Unsicherheit, Verunsicherung, Irritierungen nehmen insgesamt zu. Folgeerscheinungen sind dann zum Beispiel Schulabsentismus, Depressionen oder Angstzustände, die eine therapeutische und/oder medizinische Unterstützung brauchen.
Was brauchen Eltern und Kinder, um mit den vielen verschiedenen Anforderungen besser umgehen zu können und um sie besser bewältigen zu können? Ich glaube, es ist gar nicht so schwer: Die Familien brauchen Zeit, Energie und Neugier, um sich darauf fokussieren zu können, was wichtig ist. Der berufliche Druck nimmt zu, die anderweitigen Anforderungen
ebenfalls. Die Zeiten werden immer schneller, hektischer und komplexer. Wie sollen Eltern nach einem Arbeitstag, allen anderen erledigten Aufgaben und wenn dann auch noch der Haushalt gemacht ist, die Musse aufbringen, sich auf ihr Kind zu konzentrieren und sich z.B. mit seiner sprachlichen Entwicklung auseinanderzusetzen? Es ist nicht einfach, im Sinne einer Lebensbalance, alle Dinge unter einen Hut zu bringen. Der Zeitgeist fordert viel. Das «Ich» steht stark im Zentrum, und ich denke, es sollte mehr zum «Wir» gehen. Und da geht es dann auch um die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Wenn wir als Gesellschaft
sagen, wir leisten uns Kinder, wir leisten uns Familien, dann sollten wir das auch fördern. Ich denke, dass wir zum Beispiel dringend überdenken müssten, wie wir die Arbeitszeiten oder die Tagesbetreuung organisieren. Eltern wollen ihren Elternjob gut machen und sie müssen das Gefühl bekommen, dass sie das gut machen. Aber sie brauchen auch die Rahmenbedingungen, die Zeit, die Energie und die Ressourcen für eine gute Umsetzung ihrer Elternkompetenzen.

«Familien brauchen Zeit,
Energie und Neugier.»

Was können wir Fachpersonen nun tun, um die Resilienz von Familien im Umgang mit diesen Herausforderungen zu fördern?
Resilienzförderung heisst für mich, dass Familien eine Zuversicht entwickeln, herausfordernde Situationen meistern zu können und aus diesen gestärkt hervorzugehen. Dabei ist die Erfahrung wichtig, dass sie nicht allein dastehen, sondern Unterstützung bekommen dürfen, ohne stigmatisiert zu werden. Heute ist die Schwelle, um Unterstützung zu bekommen, viel zu hoch. Du musst zuerst eine Diagnose oder eine familiengerichtliche Entscheidung haben, bevor sich jemand um dich kümmert. Ich plädiere hier stark für niederschwellige, vielleicht auch unkonventionelle Möglichkeiten, zum Beispiel im Bereich von Vereinen oder der Nachbarschaftshilfe. Es wäre hilfreich, wenn Familien viel früher Unterstützung erhalten könnten, ohne dass diese Unterstützung ihre meist sehr schmalen Budgets noch zusätzlich belastet. Sehr sinnvoll finde ich z.B. die Möglichkeit im Kanton Zürich, dass Eltern als «Selbstanmelder» frühzeitig und kostenlos Unterstützung und Begleitung entgegennehmen können. Derartig niederschwellige Angebote zeigen auch eine gute präventive Wirkung. Resilienz ist ja kein einheitlicher Begriff. Gängige Definitionen sind z.B. «Resilienz durch Resistenz» oder «Resilienz durch Restrukturierung». «Resilienz durch Resistenz» meint zum Beispiel «aus Mist Dünger machen». Das heisst, man muss etwas Herausforderndes erlebt und anschliessend bewältigt haben. Dann kann man dafür Verantwortung übernehmen und ist danach gestärkt daraus hervorgegangen. Bei der Restrukturierung ist das anders. Restrukturierung ist ein Prozess der Anpassung. Alle Menschen auf dieser Welt befinden sich immer wieder in Anpassungsprozessen. Somit kann man auch sagen, es gibt keinen Menschen, der sich nicht resilient entwickelt, denn man wird immer irgendetwas lernen als Folge von dem, was man erlebt.

 

Was bedeutet das jetzt in konkreten Lebenssituationen?
Wenn wir zum Beispiel bei einem Säugling ansetzen: Was braucht der? Der braucht Interaktionsverhalten bzw. Zuwendung von den Bezugspersonen. Der braucht ein eigenes positives ausgeglichenes Temperament, damit er resilient wird. Diese Entwicklungen können von den Eltern unterstützt werden. Hier setzt die Familienarbeit an: Man schaut gemeinsam mit den Eltern die Kinder, deren Aktivitäten, die Interaktionen an, benennt das, was sie tun, und unterstützt sie darin, wieder neugierig auf ihre Kinder zu werden oder zu bleiben. Im Kleinkindalter geht es darum, interaktionsunterstützende Verhaltensweisen zu fördern, den sprachlichen Ausdruck und die kognitive Leistungsfähigkeit weiterzuentwickeln. Da geht es ganz niederschwellig darum, dass die Kinder im Alltag zum Sprechen kommen.

«Können die Fachpersonen
all das übernehmen,
was die Familien nicht
leisten können?»

Im Kindes- und Schulalter ist ein positives Selbstkonzept ganz entscheidend, um Resilienzen aufzubauen. Auch die Förderung des Leistungsvermögens ist in diesem Alter wichtig. Die Kinder wollen sich messen, sie wollen gut sein. Da ist sinnvolle Freizeitbeschäftigung ein wichtiger Resilienzfaktor. Können die Fachpersonen all das übernehmen, was die Familien nicht leisten können? Ich denke, das geht so nicht. Wir bräuchten in Zukunft ein starkes und vielfältiges Netz dazwischen. Ich denke an Lernhilfen, Assistenzpersonen, Freiwillige, die bei Schulaufgaben mithelfen, oder Vereine mit Freizeitangeboten für Jugendliche. Ich bin überzeugt, dass solche niederschwelligen Hilfsangebote von den betroffenen Familien frühzeitiger und einfacher angenommen werden.

 

Da fällt mir dazu gerade einer meiner Lieblingssprüche ein: Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf. Gibt es noch etwas, das Du zum Abschluss sagen möchtest?
Die Realität ist doch, dass die Helfenden alles geben. Das können wir nicht oft genug betonen. Sie sind alle hervorragend qualifiziert und versuchen möglichst gut
zusammenzuarbeiten, auf Augenhöhe mit und in den Familien, mit den Familiengerichten, mit den Beiständen, mit den Schulen, mit den Lehrpersonen, mit den Fachleuten in der Diagnostik und der Therapie. Sie machen das aber immer nur so gut, wie sie auch Zeit
dafür finden. Alle Beteiligten benötigen Zeit und Energie, um im Prozess an ihre Ressourcen, sprich an ihre Resilienz, zu kommen.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Monika.

Monika Ridinger, PD Dr. med., ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie arbeitet in eigener Praxis und ist zudem Mitglied der ärztlichen Leitung von Hometreatment Aargau (HotA). HotA bietet aufsuchende Familienbegleitung
und -therapie sowie ambulante Familienberatung an (www.hota.ch). Am IEF unterrichtet sie in der Weiterbildung «Sozialpädagogische Familienbegleitung» und bietet aktuell am 16./17. September 2024 ein Fortbildungsseminar zum «Umgang mit Familien mit psychischen Erkrankungen» an.