Peter Krummenacher

«Es steckt viel Spezifisches im Unspezifischen.»

«Psychotherapie ist sehr wirksam, beruht vielfach aber auf anderen Wirkmechanismen als bisher gemeinhin angenommen.» Peter Hain lotet im Gespräch mit dem Neuropsychologen und systemischen Organisationsberater Peter Krummenacher die Placeboforschung und die Wirkfaktoren von Psychotherapie aus.
 

Wie bist du als Psychologe in die Forschung rund um Placebo und Nocebo hineingeraten?
Mein Hauptinteresse war sicher die Schnittstelle zwischen Neurowissenschaften, Psychologie und Medizin. Mich faszinierte es, die subjektiven Erlebniskomponenten mit neurobiologischen Prozessen in Beziehungen zu setzen. Das Thema Placebo ist ein faszinierendes Werkzeug, um Körper-Geist-Wechselwirkungen und Selbstheilungsprozesse zu erforschen.

Was sind die wichtigsten Themen, die die Placeboforschung zurzeit beschäftigen?

Die Forschung lässt sich grob in drei Stränge zusammenfassen: In der klassischen Pharmaforschung sind die Placebo- und Noceboeffekte unerwünscht und werden als Störfaktoren angesehen. Je besser man jedoch die psychologischen Mechanismen versteht, desto besser kann man sie kontrollieren. Dahinter steckt die Idee, dass man mit der Eliminierung des Placeboeffekts die reine Wirkung eines medizinischen Präparats genauer vorhersagen kann. In der Grundlagenforschung gibt es einen anderen Fokus: Mittlerweile hat sich die Placeboforschung als eigenständiges, interdisziplinäres neuropsychologisches und neurobiologisches Forschungsgebiet etabliert. Placebophänomene konnten als komplexe und messbare psychoneurobiologische Reaktionen des Organismus identifiziert werden, welche selbst Einfluss auf den Heilungsprozess nehmen. Hier steht das untrennbare Zusammenspiel zwischen Psyche und Körper im Mittelpunkt. Das dritte Gebiet ist die Anwendung dieser Erkenntnisse in der klinischen Praxis: Placebo- und Noceboeffekten sind dem gesamten Behandlungskontext zuzuordnen und wirken daher nicht nur bei Schein-, sondern auch als eine Art Zusatz bei Verumbehandlungen. Placebo ist ein «Container»-Begriff, in dem eine Vielzahl psychosozialer Komponenten stecken. Je besser wir das verstehen, desto systematischer können wir psychologische Mechanismen wie positive Veränderungserwartungen, die Behandler-Klient-Beziehung oder unbewusstes Assoziationslernen nutzen, um bereits wirksame, gut etablierte Behandlungen zum Wohle des Patienten zu optimieren. Das heisst Placebokomponenten verstärken und Nocebokomponenten minimieren.

Ketzerisch gefragt: Wirkt Psychotherapie wie ein Placebo?

Der Begriff Placebo kann nicht einfach aus der Medizin auf die Psychotherapie übertragen werden. Positive Veränderungserwartungen, Hoffnung wie auch die Behandler-Klient-Beziehung sind schulenübergreifende psychologische Wirkfaktoren, die auch bei Placeboprozessen eine zentrale Rolle spielen. Somit müsste man eher Placebos als eine Art psychologische Behandlung mit spezifischen psychoneurobiologischen Wirkmechanismen bezeichnen.

Macht dann der Begriff Placebo seinerseits eigentlich noch Sinn? Ursprünglich eher abwertend benutzt, beschreibt er doch wichtige Wirkmechanismen?
Im Kontext der Psychotherapie würde ich JEIN sagen. Da gibt’s ganz klar zwei Seiten. Auf der einen Seite JA, weil er eine hilfreiche Debatte und wichtige Forschungsimpulse zu den eigentlichen Wirkfaktoren und den zugrunde liegenden psychologischen Mechanismen anregt, nämlich: Was wirkt wann und wie spezifisch, was wirkt unspezifisch, was sind Scheinfaktoren und wie kann man gute Kontrollgruppen und Psychotherapiestudien designen? NEIN, weil der Begriff eben nicht einfach so auf die Psychotherapie übertragbar ist. Es zeigt sich ja gerade, dass Hoffnung, positive Veränderungserwartung, die Qualität der Beziehung sowie Therapeutenvariablen zentrale Faktoren sind, die sehr spezifisch wirken. Es steckt also sehr viel Spezifisches im Unspezifischen. Wenn man nur schon die «Beziehung» anschaut, ist das ein riesiges Forschungsfeld. Hier stecken Empathie, Impathie, Vertrauen, Sozialkompetenz und Kommunikation drin, das sind bereits eigenständige Konzepte und eigenständige Forschungsfelder.

Sind die Chancen einer Intervention nicht viel grösser, wenn Klienten Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung entwickelt haben?

Das sehe ich auch so. Intrinsische Motivation, Kompetenzerleben, Wahlfreiheit und Akzeptanz sind entscheidende Klientenfaktoren. Zentral scheint mir, dass der Klient das Vorgehen akzeptiert und Interventionen Sinn und Bedeutung beimessen kann. Die «Techniken» müssen zu seinen Werten und seinem Weltbild passen, wodurch sein aktives Engagement unterstützt wird. Menschliche Entwicklungsprozesse verlaufen nicht geradlinig, sondern sprunghaft-chaotisch und eben sehr individuell. Ganz viel passiert ausserhalb. Metaanalysen zeigen eindrücklich, dass das Therapieergebnis hauptsächlich dem Klienten und seinen Lebensbedingungen zuzuschreiben ist. Ich erachte es daher als grosse Herausforderung, diese Mechanismen noch besser erfassen und berücksichtigen zu können. Mich interessiert auch ganz praktisch, wie wir aus Therapiesitzungen noch besser lernen können. Die Intuition lässt uns hier oft im Stich! Wie komme ich also noch unmittelbarer an das Bedeutungssystem des Klienten heran? Was könnte aus Sicht des Klienten ein gutes Feedbackinstrument sein? Je besser die subjektive Einschätzung des Klienten einbezogen werden kann, desto adaptiver und individueller können wir das Therapieangebot gestalten. Damit könnten wir auch Therapieabbrüche besser voraussagen und aus Fehlern lernen. Viele Studien zeigen eindrücklich, dass die Psychotherapie sehr wirksam ist; wirksamer als viele medizinische Verfahren. Leider übersehen wir häufig noch Patienten, die es zwar nötig hätten, aber die Therapie zu schnell abbrechen oder ein therapeutisches Angebot erst gar nicht in Anspruch nehmen. Ich denke, es wird noch zu wenig darüber reflektiert, woran das jeweils liegt.

Es gibt ja nicht nur den Placebo-, sondern auch den Noceboeffekt. Wie wichtig ist es, die negativen oder destruktiven Wirkfaktoren zu berücksichtigen?

Aus meiner Sicht ist das ein Thema, das viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. Unbedachte Wortwahl oder Suggestionen, leichtfertig dahingeredete Verdachtsdiagnosen oder auch eingebildete Risiken können die Wirkung von Behandlungen massiv reduzieren oder sogar Symptome auslösen. Auch Psychotherapien können negative Nebenwirkungen haben. Es ist ja nicht nur der Klient, der zur Wirksamkeit und zum Erfolg beiträgt, sondern auch der Therapeut als Person. Umfragen zeigen immer wieder, dass die grosse Mehrheit der Therapeuten sich selber «als zu den Besten gehörend» wahrnimmt. Selbstbild und Fremdbild passen hier aber leider nicht immer zusammen. Aus meiner Sicht wäre es daher sinnvoll, mehr darauf zu schauen, was eigentlich ein guter Psychotherapeut ist und was die tatsächlich herausragenden Psychotherapeuten anders machen. Wie lernen sie? Was in ihrer Haltung, ihrer Persönlichkeit, ihrem Menschenbild, der Beziehungsgestaltung oder der Art und Weise ihrer Präsenz wirkt positiv? Oder umgekehrt, was zeichnet die schwarzen Schafe aus?

Was sollten wir in der Ausbildung von Therapeutinnen und Therapeuten berücksichtigen oder miteinbeziehen?

Supervision und Selbsterfahrung haben ein grosses Gewicht. Es werden aber leider viel zu selten kritische empirische Studien publiziert, die analysieren, welche Faktoren und welche Art von Selbsterfahrung auch wirklich praxisrelevant und therapieverbessernd sind. Vielfach beobachte ich, dass die Selbsterfahrung während der Ausbildung einfach abgearbeitet wird. Ich würde mehr Wert auf eine Art Probezeit legen, in der man konkrete Fälle auch aus Sicht des Patienten evaluieren könnte. Dabei sollte das Gewicht auf dem «erfolgreichen Scheitern» liegen. Woran könnte es liegen, dass etwas nicht funktioniert oder aus ganz anderen Gründen trotzdem funktioniert?

Ich halte es für sinnvoll, in der Ausbildung viel früher mit unterschiedlichen methodischen und konzeptuellen Ansätzen in Kontakt zu kommen und auf schulenübergreifende Wirkfaktoren wie Beziehung und Erwartungshaltung sensibilisiert zu werden. Es wäre sehr hilfreich, eine Art Metakonzept der Psychotherapie und ihrer Wirkungen zu haben. Das gäbe den Therapeuten einerseits viel mehr Raum, um ihren eigenen Stil entwickeln und refektieren zu können, und gleichzeitig die Möglichkeit, Praxis und Forschung besser verbinden zu können. Ich habe das Gefühl, das kommt mit der aktuellen Tendenz zur Verschulung viel zu kurz. Der Fokus wird leider häufig zu einseitig auf biologische oder diagnostische Aspekte gelegt. Ein offener, interdisziplinärer Ausbildungskontext, der Erkenntnisse von Psychologie, Neurowissenschaften, Soziologie und Philosophie berücksichtigt und wechselseitigen Austausch zwischen Praxis und Forschung fördert, wäre daher unbedingt wünschenswert und hilfreich.

Ist der persönliche Stil des Therapeuten auch ein Wirkfaktor? Wenn ja, was bräuchte es, um einen wirksamen persönlichen Stil zu entwickeln?

Ja, Therapietechniken und Methoden müssen nicht nur zum Klienten und zum therapeutischen Prozess, sondern auch zum Stil und zur Persönlichkeit des Therapeuten passen. Das zeigen Studien aus der medizinischen Placeboforschung eindrücklich. Die Überzeugung des Behandlers bezüglich der Wirksamkeit der verabreichten Schmerzmedikation hatte einen Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung des Patienten. In der Psychotherapie ist der Glaube oder die Überzeugung des Therapeuten an seine Methode ebenso ein wichtiger Wirkfaktor. Möglicherweise wirkt das indirekt über die Vermittlung von Sicherheit und Präsenz. Darum scheint es mir sehr wichtig, sich bewusst zu sein, wie man als Person wirkt, welche Wertvorstellungen, Kompetenzerwartungen und welches Menschenbild man hat. Es spielen ja nicht nur die Veränderungserwartungen des Klienten eine wichtige Rolle, sondern eben auch die des Therapeuten. Für die Praxis wäre es hilfreich, wenn man sich schon viel früher im Studium mit den übergeordneten Wirkfaktoren auseinandersetzen würde. Von wissenschaftlicher Seite gibt es dazu sehr viele gute Metaanalysen, die bisher jedoch zu wenig Eingang in die Therapieausbildungen gefunden haben.

Welche Rolle spielt denn eigentlich der Glaube eines Studienleiters – gibt es einen Placeboeffekt beim Studienleiter?

Wenn der Faktor «Identifikation mit der eigenen Technik oder Schulenzugehörigkeit» mitberücksichtigt wird, zeigt sich, dass eigentlich fast alle Formen der Psychotherapie gleich wirksam sind. Auch in der medizinischen Forschung gibt es Beispiele dafür, dass man nicht immer von einer klaren Subjekt-Objekt-Trennung ausgehen kann, dass also der Beobachter durch seine Untersuchungsmethode Einfluss auf den Untersuchungsgegenstand nimmt: In einem klassischen Doppelblindversuch hat man ein Schmerzmittel im Vergleich mit einer Scheinbehandlung getestet. Das Schmerzmittel hatte einen stärkeren analgetischen Effekt. Das wurde als Nachweis für die Wirksamkeit des Schmerzmittels publiziert und auch so eingesetzt. Später wurde das Präparat mit einer anderen Methode untersucht und versteckt – d.h. ohne Erwartung – verabreicht. Der Effekt war, dass das Mittel überhaupt keinen schmerzlindernden Effekt mehr hatte. Daraus wurde vorschnell geschlossen: Die pharmakologische Substanz ist wirkungslos. Die neue Schlussfolgerung ist aber, dass es eine psychopharmakologische Interaktion gibt. Es ist sozusagen die Erwartung, welche das pharmakologische Präparat aktiviert. In diesem spezifischen Fall braucht es also beides: eine Erwartungshaltung und das Medikament, dessen Wirkung durch die Erwartungshaltung entfaltet werden kann. Möglicherweise gibt es ja ähnliche Interaktionen in der Psychotherapie. Natürlich kann man Psychotherapie nicht versteckt verabreichen, aber vielleicht gibt es Techniken, die nur Wirkung entfalten, wenn sie in einer speziellen Art von Beziehung und Erwartungshaltung verabreicht werden.

Heisst das, man müsste Verläufe viel differenzierter und präziser analysieren und gleichzeitig sehr aufmerksam sein, in welchem Netzwerk oder System eine Wirkung entsteht?

Richtig. Ja, die psychosozialen Komponenten, Mindsets und die Beziehung sollten mit der gleichen wissenschaftlichen Rigorosität wie die Medikamentenentwicklung untersucht werden. Dabei wäre ein integratives, disziplin- und schulenübergreifendes Therapiemodell sehr hilfreich. Die Theorie von komplexen Systemen könnte metamethodisch und metakonzeptuell einen Rahmen schaffen, welcher Individualität, Vielfalt und Nichtlinearität menschlicher Entwicklungsprozesse berücksichtigt. Eine solche prozessorientierte systemtheoretische Sichtweise legt den Fokus auf Bedingungen für Selbstorganisationprozesses des Klienten. Das würde heissen, dass ich das ganze Spektrum an Methoden und Interventionsmöglichkeiten prozessorientiert und adaptiv nutze, unabhängig davon, ob ich systemisch, hypno- oder verhaltenstherapeutisch arbeite.

Was ist – zusammenfassend – deine Hauptbotschaft?

Placebo ist eine Art «Containerbegriff», in dem eine Vielzahl psychosozialer Wirkfaktoren stecken, die sehr spezi sch sein können und bei fast jeder medizinischen Behandlung mitwirken. Diese können zur Optimierung von Behandlungen eingesetzt werden.

Auch in der Psychotherapie spielen der Kontext und das Setting eine zentrale Bedeutung und sollten viel mehr therapeutisch genutzt werden. Die Psychotherapieforschung zeigt, dass sehr viel Spezifisches im vermeintlich Unspezifischen steckt. Psychotherapie ist sehr wirksam, beruht vielfach aber auf anderen Wirkmechanismen als bisher gemeinhin angenommen. Veränderungserwartungen, Überzeugungen, Glaube, Beziehung und Therapeutenfaktoren sind zentrale Wirkfaktoren. Mir ist wichtig, dass der Faktor Mensch ins Zentrum rückt und wir uns der Bedeutung von Therapeutenwirkfaktoren bewusst werden. Die Behandler-Klient-Beziehung und die Behandlung scheinen eine Art System zu sein. Die Wirkung der Behandlung ist auch im medizinischen Kontext oft abhängig von der Person, die das Präparat verabreicht.

Im Hinblick auf ein schulenübergreifendes Metakonzept der Psychotherapieforschung sollten wir mehr auf die Bedingungen für Selbstorganisationprozesse fokussieren – da ja hauptsächlich der Klient für die Veränderungen verantwortlich ist. Und: Ein bisschen mehr Rituale würden die Psychotherapie wieder attraktiver machen.

 

Das Gespräch mit Peter Krummenacher ist publiziert im IEF-Magazin Nr. 5, Herbst 2017.