Sabine Brunner

«Unsere Intuition leitet uns oft auch in die Irre.»

Welches Potenzial liegt in der Systembiologie? Was können wir aus der Epigenetik und der Schlafforschung lernen? Der Neurobiologe und Publizist Peter Spork plädiert im Gespräch mit Martin Engel, Vorstandsmitglied des IEF, für ein hoch individualisiertes, ganzheitliches Gesundheitssystem, das die Prävention ins Zentrum stellt.


Martin Engel: Herr Spork, Ihr aktuelles Buch «Die Vermessung des Lebens» beschäftigt sich mit Systembiologie. Welche Verbindung sehen Sie zwischen dem systemischen Ansatz und der Systembiologie?

Peter Spork: Ich verstehe den systemischen Ansatz als Versuch, in komplexen Netzwerken verborgene Zusammenhänge aufzuspüren. Oder um es mit Nora Bateson zu sagen: Entscheidend sind die Beziehungen zwischen den Menschen, die durch Beziehungen entstehen, die auf Beziehungen aufbauen, die auf Beziehungen aufbauen und so weiter. Genau dies versuchen sowohl die systemische Therapie, Beratung oder Coaching wie auch die Systembiologie. Nur dass sich die systemische Therapie mit Traumatisierung, psychiatrischen Diagnosen und Ähnlichem beschäftigt. Systemische Beratung oder Coaching möchte oft Konflikte in Beziehungen oder kommunikative Probleme lösen. Die Systembiologie versucht ein ähnliches Denken auf die ganze Biologie zu übertragen. Die Fragestellungen werden hier so komplex, dass die Mathematik helfen muss. Die Systembiologie erfasst möglichst viele Daten aus dem Leben, füttert damit

«Die Systembiologie erfasst möglichst viele Daten, um verborgene Muster aufzuspüren.»

die Computer und benutzt künstliche Intelligenzen, um verborgene Muster aufzuspüren und so neue Informationen über das Leben zu gewinnen. Damit sollen Erkenntnisse über die mögliche Zukunft eines Lebewesens gewonnen werden. Prognosen über die Gesundheit. Und letztlich macht eine gute Psychotherapie ja das Gleiche: Sie versucht, Probleme in der Gegenwart zu analysieren, beschäftigt sich mit der Vergangenheit und – wenn sie systemisch denkt – vor allem auch mit der Interaktion zwischen Individuen, aber auch der Interaktion zwischen mir und meiner Vergangenheit und versucht, daraus Ideen abzuleiten, wie ich vielleicht mein Leben in Zukunft besser gestalten kann.

Warum ist die Systembiologie für Therapeuten*innen, Coaches und Beratende ein so spannendes Thema?

Weil Medizin, Psychologie und Gesundheit letztlich ja auch Biologie sind, weil soziale Prozesse immer auch zu Biologie werden, ist die Systembiologie ein Ansatz, der, wenn er irgendwann mal wirklich umfassend gelingt, die heutige «Krankheitsmedizin» überflüssig machen wird. Dann entsteht etwas, was ich im ersten Übergang «Gesundheitsmedizin» nennen würde: Sie würde noch medizinisch denken, also eher monokausal und eher an Symptomen orientiert. Sie wäre noch auf direkte Kausalketten fixiert, hätte aber schon die Gesundheit und nicht mehr die Krankheit im Fokus. In einem nächsten Schritt, wenn wir die Komplexität des Ganzen wissenschaftlich durchschaut haben, dann würde ich das, was daraus resultiert, «Gesundheitsbegleitung» nennen. Spätestens ab diesem Punkt ist zwingend die Psychotherapie mit im Boot, aber zum Beispiel auch die Hebammen, die Ernährungsberatung oder die Physiotherapie. Diese Expertinnen werden uns auf unserem Weg respektive im Prozess unserer Gesundheit begleiten. Da macht es dann keinen Unterschied mehr, ob es um eine Operation, ein Coaching oder eine Ernährungsberatung geht. Dieses integrierte «Gesundheitssystem» begleitet mich systemisch auf meinem Weg durch meine Gesundheit, es ist ganzheitlich – so, wie sich das ja eigentlich alle wünschen.

«Die Systembiologie wird die heutige ‹Krankheitsmedizin› überflüssig machen.»

Die heutige Medizin ist extrem reduktionistisch, weil sie naturwissenschaftlich vorgeht und angesichts der Komplexität des Lebens gezwungen ist, Einzelteile isoliert zu betrachten. Jetzt kommt aber dank den wachsenden informationstechnischen Möglichkeiten und vielen neuen Erkenntnissen aus der biologischen Grundlagenforschung die Wissenschaft in die Lage, sogar das grosse Ganze mit ihrem methodischen Ansatz durchzurechnen, zu modellieren, Formeln und Algorithmen zu finden, die das Leben ganzheitlich beschreiben. Letztlich wird es gelingen, den digitalen Zwilling eines Menschen zu konstruieren. Er wird dann gefüttert mit Informationen über seine Psychologie, über seine Kindheit, über die Kindheit seiner Vorfahren und was die für traumatisierende, aber vielleicht auch die Resilienz fördernde Erfahrungen gemacht haben. Hinzu kommen soziologische, soziokulturelle Dinge und der Lebensstil der Gegenwart; wie viel Sport ich mache, wie ich mich ernähre, aber natürlich auch knallharte medizinische Fakten. Aus diesen vielen, vielen Daten entwickelt sich letztlich ein Algorithmus, der dem lebendigen Zwilling dabei hilft, seine Gesundheit selbstbestimmt zu leben.

Das klingt vielversprechend. Ich könnte mir aber vorstellen, dass es für viele irritierend ist, dass der Weg zu einem ganzheitlicheren Gesundheitssystem über die Digitalisierung und «Big Data» führen soll.

Ich habe auch Angst vor Big Data. Und unsere Angst ist ja auch absolut berechtigt. Aktuell werden unsere Daten entweder von Regierungen wie in China oder von kapitalistischen Grosskonzernen wie Google und Amazon abgegriffen. Damit machen diese wahnsinnig viel Geld oder üben gnadenlose Kontrolle aus. Auf der anderen Seite gibt es aber auch unfassbar viele Wissenschaftler*innen, die überall in den modernsten Forschungsinstituten dieser Welt mit Gesundheitsdaten arbeiten und zugrunde liegende biologische und psychologische Modelle entwickeln, die helfen werden, dass man diese Daten in Zukunft noch viel besser nutzen kann. Ihr Antrieb ist, für uns Gutes zu tun und Big Data einzusetzen, damit wir unserer Evolution einen Schritt voraus sein können. Genau wie unsere natürlichen Sinnesorgane werden uns die neuen Methoden Rückkopplungsinformationen schenken, die für unser Leben in der modernen Welt wichtig sind. Der Traum ist, das Leben mithilfe wissenschaftlicher Methoden datenbasiert, quantifizierbar, hochpräzise, individuell und ganzheitlich zu betrachten. Es ist im Grunde nichts anderes als das, was unsere Biologie und unser Bewusstsein schon heute tun, nur mithilfe neuer Sinne. Meine Hypothese ist, dass wir die Kontrolle über unsere Daten eher verlieren, wenn wir diese Entwicklung ablehnen. Wenn wir hingegen anfangen, uns positiv damit auseinanderzusetzen, haben wir die Chance, dafür zu sorgen, den Umgang mit unseren Daten mitzugestalten. Wir sollten aufpassen, dass die Daten nicht in falsche Hände geraten und wir die Kontrolle darüber verlieren.

Das Konzept des «digitalen Zwillings» verspricht ja auch ein sehr viel individualisierteres Gesundheitsverständnis.

Ich bin überzeugt, jeder und jede sollte selber definieren, was er oder sie unter Gesundheit versteht. Mein zentrales Anliegen ist es, Gesundheit auf einer anderen Ebene zu beschreiben, sie als einen Prozess zu verstehen, den wir selber gestalten können. Es geht also um Prävention und Vorsorge, um das Vermeiden von Krankheiten respektive darum mit ihnen möglichst gut leben 

«Letztlich wird es gelingen, den digitalen Zwilling eines Menschen zu konstruieren.»

zu können. So wird Gesundheit zu Anpassung. Psychotherapeuten, Medizinerinnen oder Hebammen begleiten uns dabei. Die Systembiologie stellt die individuellen Daten dafür zur Verfügung und wertet sie aus.

Was heisst das konkret?

Ich persönlich habe zum Beispiel chronisches Asthma. Für meine Gesundheit ist es wichtig, damit gut umzugehen. Andere sagen vielleicht, ich will 120 Jahre alt werden. Dann sagt der digitale Zwilling, wie man die Wahrscheinlichkeit dafür erhöht. Anderen dagegen ist es wichtig, ein erfülltes, fittes Leben zu haben und dann im Alter von 90 Jahren ohne Siechtum zu sterben. Alle haben ihr eigenes Verständnis von Gesundheit und sollten ihre Daten nutzen, dieses Leben zu leben. Zudem sind wir biologisch wie psychologisch hoch individuell. Es ist ein grosses Defizit der aktuellen Medizin, dass sie alle Menschen über einen Kamm schert. Wenn man ein Medikament bekommt, dann wird man so behandelt, als wäre man der Mittelwert aus einer riesigen evidenzbasierten Studie. Aber wir sind doch kein Durchschnitt!

Das Ziel der Systembiologie ist es, mit den vielen guten, neuen Erkenntnissen aus der Grundlagenforschung ein Grundmodell zu entwickeln, das für alle Menschen gilt. Dieses Modell wird dann zum Beispiel mit meinen persönlichen Daten gefüttert. Daraus entstehen dann hochpräzise hoch individualisierte Prognosen für die Zukunft, die nur für mich in meiner spe- ziellen Lebenssituation, mit meiner speziellen Biologie und Psyche gelten. Das ist dann mein eigener digitaler Zwilling. Gelingt das, brauchen wir die bisherige Medizin so nicht mehr. Natürlich wird man immer Knochenbrüche heilen und Pandemien bekämpfen müssen. Aber es wird etwas geben, wo Psychologie und Medizin eins sind und uns gemeinsam bei der Anpassung an die Herausforderungen unserer Umwelt helfen. Das ist ein zutiefst natürlicher Prozess.

Was der Psychotherapie derzeit oft fehlt, sind harte Daten über biopsychologische Veränderungen und das naturwissenschaftliche Fundament dahinter. Sie kann also von der Biomedizin viel lernen, auch von deren reduktionistischen Ansätzen. Und gleichzeitig kann die Medizin viel von der Psychotherapie lernen. Die Systembiologie betrachtet ja beides und integriert medizinische wie psychologische Daten. So gelingt es plötzlich, das Ganzheitliche, das in der Psychotherapie steckt, mit dem Reduktionistischen, Modellhaften aus der Biomedizin zu kombinieren – sozusagen das Beste aus beiden Welten in ihren Formeln zu vereinen. Deshalb hoffe ich, auch die psychosozialen Berufsgruppen sehen das Potenzial, das in der Analyse von Daten steckt. Wenn sie zum Beispiel ihren Klienten*innen einen Schlaftracker geben und über längere Zeit verfolgen, wie deren Schlaf verläuft, so können diese Daten in einer Therapie unheimlich hilfreich sein.

Sie haben ja auch zur Epigenetik zwei wegweisende Bücher publiziert. Wie passen die neuen Erkenntnisse der Epigenetik zur Systembiologie?

Ich habe 2009 das weltweit erste allgemein verständliche Buch zur Epigenetik geschrieben. Dann habe ich irgendwann gemerkt, dass die Erkenntnisse der Epigenetik unseren Blick auf Gesundheit total verändern, weil sie uns zeigen, wie wir uns als Organismus an unsere Umwelt, an unseren Lebensstil, an unsere Psychotherapie anpassen. Das geschieht auf molekularbiologischer Ebene nämlich oft durch die Verstellung von epigenetischen Schaltern und Dimmern. Wenn ich als Therapeutin mit einer Klientin arbeite und deren Stressregulationssystem verstelle, dann verstellen sich epigenetische Schalter in ihren

«Gesundheit ist ein sich über viele Generationen fortsetzender Prozess.»

Nervenzellen und in den Zellen ihrer hormonproduzierenden Organe. Dank Epigenetik habe ich also gelernt, dass wir Gesundheit völlig neu betrachten müssen und dass wir auch die Vergangenheit, die Kindheit, Erfahrungen aus vorherigen Generationen berücksichtigen müssen. Gesundheit ist ein sich über viele Generationen fortsetzender Prozess.

Das ist für Psychotherapeuten*innen ja nichts Neues. Aber das Spannende an der Epigenetik ist, dass wir das jetzt molekularbiologisch messen können. Das ist auch für die  Psychotherapie eine enorm wichtige Botschaft, weil ihre Erfolge dadurch sichtbarer und erklärbarer werden. Was die Molekularbiologie messen kann, hat nun mal in unserer Gesellschaft eine höhere Bedeutung. Und die damit verbundenen Biomarker sind für die Therapieforschung, für das Hinterfragen und Überprüfen der Methoden wichtig. Oder anders gesagt: Auch die Epigenetik liefert knallharte Daten, mit denen man einen digitalen Zwilling füttern würde. Und so ist das Systembiologie-Buch eigentlich nur die Fortsetzung meiner Epigenetik-Bücher.

Sie haben sich ja auch wissenschaftlich und publizistisch intensiv mit dem Schlaf und der Schlafforschung auseinandergesetzt. Gibt es einen roten Faden, der dieses Forschungs- feld in einen Bezug zur Epigenetik und zur Systembiologie bringt?

Der rote Faden ist die Bedeutung all dieser Themen für die Prävention. Der Schlaf ist ein extrem wichtiges und absolut unterschätztes Phänomen. Er ist eine Ressource für Resilienz, für psychische Stabilität, aber auch für körperliche Gesundheit. Das wissen wir alle. Aber warum hat die Evolution den Schlaf überhaupt erfunden? Er ist ja eigentlich ein absurder Zustand. Wir schalten unser Wachbewusstsein ab und sind bedroht in dieser Situation. Wir müssen schlafen, zuallererst, damit unser Gehirn funktioniert und damit wir ein Gedächtnis und überhaupt ein Bewusstsein haben. Ohne Schlaf gäbe es kein Bewusstsein. Und das Bewusstsein ist der Film, der uns durchs Leben geleitet, ist der Film, den wir selbst produzieren, damit wir Vorhersagen über auf uns zukommende Situationen machen können.

Das Bewusstsein macht letztlich nichts anderes als die Systembiologie, nur vor einem anderen Zeithorizont. Auf der Basis der Erfahrungen aus der Vergangenheit entstehen mithilfe von gegenwärtigen Sinneseindrücken oder Daten Vorhersagen, was uns als Nächstes erwartet. Die Systembiologie kann dabei sehr viel weiter schauen. Und das hilft der Prävention.

Sie sprechen gerne auch von einer «Präventionsgesundheit». Was können wir uns darunter vorstellen?

Wir müssen als Gesellschaft lernen, Prävention zu leben. Wir haben es in der Pandemie gesehen und sehen es bei der Klimakatastrophe: Es ist für uns Menschen enorm schwierig, mit Dingen umzugehen und so zu handeln, dass wir langfristig profitieren, also in einem Zeitfenster, das über unser aktuelles Bewusstsein hinausgeht. Dafür ist unsere Biologie nicht ausgelegt. Wenn ich heute entscheide, ich schlafe mehr und besser, dann ist das gut für meine Gesundheit. Das wirkt sogar noch in vielen Jahren. Und es ist vielleicht sogar gut für die Gesundheit meiner Kinder. Wenn ich entscheide, kein Fleisch mehr zu essen, ist das gut für das Klima vielleicht der nächsten Generation. Aber solche Entscheidungen muss ich aus dem Verstand heraus treffen und nicht aus meinem Bewusstseinsfilm, der mir gerade erzeugt wird. Der sagt mir nämlich: Fleisch ist lecker und wieso soll ich jetzt schlafen und auf die tolle Party heute Nacht verzichten? So ticken wir ja in Wahrheit.

Die Wissenschaft findet Dinge über uns heraus, die wir auf der Basis unserer Intuition nicht verstehen. Das tut manchen Psychologen*innen und vor allem den Esoterikern total weh, wenn man sie mit dieser Tatsache konfrontiert, dass unsere Intuition uns oft auch in die Irre leitet. Das hat damit zu tun, dass wir nun mal biologisch wie in der Steinzeit ticken. Ich habe keinen Messfühler dafür, ob ich ausreichend schlafe. Wenn ich gar nicht geschlafen habe, merke ich das. Aber wenn ich jede Nacht eine halbe Stunde zu wenig schlafe, merke ich das nicht. Ich habe auch keinen Fühler dafür, ob ich im richtigen Rhythmus schlafe. Solche Dinge waren für Steinzeitmenschen keine relevanten Probleme. Wir müssen also eine Technik entwickeln, wie wir unsere Intuition, die ja sehr wichtig ist und meist sehr gut funktioniert, noch ein wenig verbessern können. Dabei können uns die Wissenschaft und Big Data helfen. Und damit sind wir wieder bei der Systembiologie.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Der promovierte Neurobiologe Peter Spork ist seit mehr als 30 Jahren als freier Publizist unterwegs. Er zählt zu den führenden Wissen- schaftsautoren Deutschlands und seine Sachbücher wurden vielfach übersetzt. Peter Spork ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des IEF. Mehr Informationen: peter-spork.de


Aktuelle Bücher von Peter Spork:

«Die Vermessung des Lebens»
Wie wir mit Systembiologie erstmals unseren Körper ganzheitlich begreifen – und Krankheiten verhindern, bevor sie entstehen DVA, München 2021. Nominiert für das Wissenschaftsbuch des Jahres 2022

«Gesundheit ist kein Zufall»
Wie das Leben unsere Gene prägt – Die neuesten Erkenntnisse der Epigenetik Taschenbuch: Pantheon Verlag, München 2019; E-Book: DVA, München 2017

«Das Schlafbuch»
Warum wir schlafen und wie es uns am besten gelingt, Taschenbuch: Rowohlt Verlag,
3. Auflage, Hamburg 2019; E-Book: Rowohlt Verlag, Hamburg 2011